Kleine Geschichte des Ersten Mai in Luzern
Zu einem gesetzlichen Feiertag hat es der «Tag der Arbeit» im wenig industrialisierten Kanton Luzern nie geschafft. Aber einst war doch einiges am 1. Mai los, wenn die Gewerkschaften zum Umzug für Arbeiterrechte und Arbeitszeitverkürzung aufgerufen hatten. Vor allem im Untergrund-Quartier pflegte man eine kämpferische 1.-Mai-Tradition.
2014 gab es Knatsch um die Erster-Mai-Demo. Ausgerechnet der Präsident der Grünen der Stadt Luzern, Marco Müller, kritisierte die Sperrung der Seebrücke für den arbeiterbewegten Umzug. «Ist es verhältnismässig und gerechtfertigt, am 1. Mai abends in der Rush Hour für 100 Nasen die halbe Seebrücke zu sperren? Ich meine ganz klar, nein», postete der Grüne auf Facebook.
Knatsch um den 1. Mai in Luzern, das ist eine lange Geschichte, die bis ins 19. Jahrhundert zurückführt. Bereits beim ersten Mal, als der damals noch der Liberalen Partei nahestehende Arbeiterbund erstmals zu einer Feier zum Tag der Arbeit 1890 aufrief, vermeldete das «Vaterland», die Zeitung der Katholisch-Konservativen: Bloss 50 Mann mit Trommel und drei Fahnen seien marschiert, darunter besonders viel Ausländer. Der Vorwurf, dass vor allem radikalisierte Ausländer am 1. Mai marschieren, sollte die 1.-Mai-Feierlichkeiten weit ins 20. Jahrhundert hinein begleiten.
Italiener von Polizei bespitzelt
Der 1. Mai war denn auch ein Marathontag für die Polizeispitzel. Eine aufschlussreiche Fiche findet sich im Staatsarchiv Luzern. Da berichtet der italienischkundige Polizeikorporal Anton Aerni über seine Beobachtungen anlässlich der Gründung eines sozialistischen Vereins von italienischen Arbeitern am 1. Mai und 2. Mai 1897.
Aus dem Gasthaus Kreuzstutz, von den Untergründlern auch «Volkshaus II» genannt, rapportierte er: «Vor einer circa 200 Italienern bestandener Menge redete ein Vergnanini, angeblich Schriftsteller in Genf, circa 36 Jahre alt, 173 cm hoch, Haare und kleines Schnurrbärtchen dunkelblond, Gesicht blass, spitz, Nase lang, schwarz gekleidet. Derselbe nannte seine Zuhörer Lasttiere, Sklaven des Kapitalismus, feuerte sie an, sich zu einem Vereine zu gliedern, um so wirksamer dem drohenden Verderben entgegen zu arbeiten, sich frei zu machen, und weil in numerischer Mehrheit dastehend, die Oberhand zu erringen.»
«Gegen die Front des Kapitals»
Aber die Erster-Mai-Bewegung blühte selbst im wenig industrialisierten Luzern auf. Besonders eindrucksvoll war der Umzug im Jahre 1935. Hier wurden schon im April Chorproben für die Parolen angesetzt, mehrere Wagen mit Figuren geschmückt und Transparente gemalt mit der Aufschrift «Gegen die Front des Kapitals – die Front der Arbeit». Einer der Wagen war der Forderung nach dem achten Pflichtschuljahr gewidmet.
«Der farbenfrohe Wagen war beladen mit Blumen geschmückten Kindern, die das stolz in die Welt guckten und ihre Freude daran hatten», schrieb die Arbeiterzeitung und fuhr fort: «Und schliesslich folgt noch der Wagen der Bau- und Holzarbeiter. Zwischen den Wagen marschierten die Massen, Musikcorps, Sportorganisationen, Frauen, Gewerkschafter Seite an Seite mit den Genossen; und in allen Gesichtern stand die Entschlossenheit, für das Ziel des Befreiungskampfes einzustehen.»
Auf der Strasse Farbe bekennen
Mit dem Zweiten Weltkrieg wendete sich das Blatt. Der 1. Mai war gestrichen aus dem Festkalender des Proletariats. Burgfrieden herrschte zwischen Kapital und Arbeit, zwischen Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften. Auch noch 1944 entschied das Luzerner Gewerkschaftskartell, keinen Mai-Umzug zu veranstalten. Im «Volkshaus II» am Kreuzstutz sah man die Dinge anders. Hitlers Bedrohung war nicht mehr drückend und für die Untergründler war es wieder an der Zeit, auf der Strasse mit roten Flaggen Farbe zu bekennen.
So liest man in der damaligen Arbeiterzeitung «Freie Innerschweiz»: «Pünktlich um 14 Uhr marschierten die Untergründler mit einigen Genossen aus der Stadt beim Volkshaus Kreuzstutz ab. Voraus wurden die Arbeiter-Radler, ihnen folgten die Fahnengruppe, die Musikgesellschaft Reussbühl, die mit ihren Flottenmärschen viele Zuschauer herbeilockte, anschliessend die Frauen und Männer.»
Die Schilderung zeigt ganz eindrücklich, wie tief verwurzelt noch in den 1940er-Jahren die Arbeiterkultur war. Von der Musik über den Sport, von den Velofahrern über die Naturfreunde, von den Theater- bis hin zu Jugendgruppen war der ganze Freizeitbereich, ganz ähnlich dem geschlossen katholischen Milieu, von Arbeitervereinen organisiert. Im Untergrund trafen sich diese Vereine vor allem im Kreuzstutz. Es gehört zu den kennzeichnenden Symbolen des Niedergangs der Arbeiterkultur, dass mit dem Aufkommen des Individualverkehrs das Volkshaus II am Kreuzstutz für die Verbreiterung der Baselstrasse abgerissen wurde.
Individualität statt Kollektiv
Individuelle Freizeitgestaltung statt die Nestwärme im Kollektiv war ab den 1960er-Jahren angesagt. Dies machte sich auch bei den rückläufigen Teilnehmerzahlen der 1.-Mai-Umzüge bemerkbar. Zählte man früher noch 3’000 Teilnehmende bei den Kundgebungen auf dem Kornmarkt, hörten bei der letzten Mai-Feier der alten gewerkschaftlichen Garde nur noch 1’500 Menschen zu. Mit dem Epochenumbruch von 1968 spaltete sich dann die 1.-Mai-Bewegung auf.
Die Neue Linke, die später als POCH (Progressive Organisationen Schweiz) auch Einsitz im grossen Stadtrat nahm, wollte nichts mehr von Sozialpartnerschaft und verwedelnden Kompromissen mit den Arbeitgebern wissen. Sie wollten Klassenkampf und Kriegsdienstverweigerung, Dritte-Welt-Themen und Feminismus auf die politische Agenda setzen. Sozialdemokraten und Gewerkschaften verzogen sich dann am 1. Mai in den Saal des Ankers (ehemalige Volkshaus), während die Neue Linke auf dem Kornmarkt anzutreffen war.
Das «Vaterland» höhnte 1973 über den Aufmarsch der 500 Demonstrierenden der Neuen Linken: «Die Masse der Demonstranten ist eine Masse ohne Bewusstsein, eine Masse, die nicht oder noch nicht in der Lage ist, eine effektvolle Demonstration durchzuführen.» Während bei den letzten Mai-Feiern der alten Gewerkschaftsgarde im Publikum kaum Transparente, dafür viele in Anzug gekleidete Arbeiter zu sehen waren, fehlte in den 1970ern auf dem Kornmarkt nicht «ein malerischer Transparentenwald mit sozialistischen Parolen», wie die «Luzerner Neueste Nachrichten» 1974 bemerkte.
Delf Bucher