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Als Wohnbauförderung noch zügig vorankam

80 Jahre Baugenossenschaft Reussinsel

Die kleinen Häuschen am oberen Ende der früheren Reussinsel im Luzerner Untergrundquartier können heuer ihren 80. Geburtstag feiern. Allerdings ist den Bewohnerinnen und Bewohnern nicht wirklich zum Feiern zumute, sind doch die Tage dieser Genossenschaftssiedlung gezählt. Doch darüber später. Vorerst geht UntergRundgänger Urs Häner auf Spurensuche im Jahr 1943.

Illustration auf dem Titelblatt des Reussinsel Boten Nummer 1, 1944
Illustration auf dem Titelblatt des Reussinsel Boten Nummer 1, 1944

Es kommt uns einigermassen bekannt vor: Es war Krieg, und es herrschte Wohnungsknappheit. Allerdings sei vorneweg schon eingeräumt, dass in den greifbaren Dokumenten zu den Anfängen der Baugenossenschaft Reussinsel Luzern (BRL) kaum Spuren einer Widerspiegelung des damaligen Kriegskontextes zu finden sind – die Sorgen des eigenen Alltags lagen offenbar näher, es geht den meisten ja heute nicht anders.

Offensichtlich war hingegen, dass auch damals die gesellschaftliche Lage von Wohnungsknappheit gekennzeichnet war. Jedenfalls hatte der Bundesrat im Juni 1942 Massnahmen zur Linderung der Wohnungsnot durch Förderung der Wohnbautätigkeit beschlossen. Diesen Steilpass nahmen in Luzern einige gerne an: Der Stadtrat gab eine Landparzelle nahe der St.-Karli-Brücke zur Bebauung frei (bis anhin war da ein unschönes Eisen- und Materiallager), und «einige liberale Bürger vom Untergrundquartier» (so wurden sie in einer Festschrift 1983 benannt) schlossen sich zusammen, um dort Häuser erstellen zu können. Ausserdem entwarfen im Januar 1943 zwei Krienser Architekten ein Musterhaus, das öffentlich besichtigt werden konnte und auf breites Interesse stiess.

Bild des Materiallagers oberhalb der ehemaligen Reussinsel (Foto: Stadtarchiv Luzern)
Bild des Materiallagers oberhalb der ehemaligen Reussinsel (Foto: Stadtarchiv Luzern)

Vom Stadtratsbeschluss…

Am 25. Februar 1943 fand dann die Gründungsversammlung der Baugenossenschaft Reussinsel im Restaurant Steinbruch an der Baselstrasse statt. Kurze Zeit später konnte deren erster Präsident Viktor Willimann bei der städtischen Baudirektion ein Gesuch einreichen, mit dem zwölf Eigenheime auf der Parzelle an der Ecke St. Karlibrücke/Dammstrasse im Baurecht errichtet werden sollten (der Strassenname Reussinsel begann damals weiter flussabwärts). Und man lese und staune: Bereits am 18. März 1943 fasste der Luzerner Stadtrat den Beschluss, diesem Bauvorhaben zuzustimmen!

Ein Terrainpachtzins von bescheidenen 50 Rappen pro Quadratmeter war unbestritten, ebenso die Baukosten von Fr. 28’000.- für jedes der 12 Eigenheime.

Noch unklar war die Dauer des angestrebten Baurechts (es handelte sich offenbar um den allerersten Baurechtsvertrag in der Stadt Luzern). Angedacht waren 30 Jahre, eventuell 50 Jahre – im definitiven Vertrag wurden dann 40 Jahre vereinbart…

Dank der Subvention durch Bund, Kanton und Gemeinde von zirka 25% sollten diese Eigenheime erschwinglich werden für die Gewerbler aus dem Untergrund.

Mit dem atemberaubenden Vorankommen dieses Bauprojekts ging es Schlag auf Schlag weiter: Bald waren 12 Genossenschafter gefunden, am 8. Mai 1943 wurde der Vertrag über die Bestellung eines Baurechtes zwischen der Einwohnergemeinde Luzern und der BRL unterzeichnet. Ergänzend kam die Bestimmung dazu, dass der Baurechtszins von 50 Rappen pro m² und Jahr «nach Ablauf der ersten 5 Jahre und später wiederum von 5 zu 5 Jahren» neu festgesetzt werde. Auch wurde die Genossenschaft dazu verpflichtet, bei der Projektierung der Wohnbauten darauf zu achten, «dass sie bei Abbruch mit einem Minimum von Arbeit und Materialeinbusse wieder anderswo aufgestellt werden können»… eine eigentlich verblüffende Auflage angesichts der zuvor vereinbarten Vertragsdauer von 40 Jahren.

…zum Besichtigungstermin

Aber das Staunen hat noch kein Ende: Bereits Anfang September 1943 konnten im Luzerner Tagblatt Besichtigungstermine in der «Einfamilienhaus-Kolonie» angekündigt werden! Stolz wird vermerkt, dass dank tatkräftiger Mitarbeit von Firmen und Genossenschaftern das Bauwerk «in der Zeit von vier Monaten und acht Tagen» (!) erstellt werden konnte (gemeint ist wohl der Zeitraum zwischen dem Vertragsabschluss und dem Beginn der Laufzeit des Baurechtsvertrags Mitte September 1943). Beigefügt wurde die Erläuterung, dass angesichts der unerhört kurzen Zeit für die technische Durchführung und Organisation «von bisher üblichen Methoden abgewichen werden musste» und dass es sich um «halbmassive Bauten» mit Holzständern und gipsisolierten Fassaden handelte… klar, dass 80 Jahre später nochmals neu über wärmedämmtechnische Investitionen hätte nachgedacht werden müssen (aber dazu kommt es nun ja nicht).

Über die erwähnten Besichtigungstermine liest sich der Bericht von Harry Bühlmann, langjähriger Funktionsträger in der Baugenossenschaft Reussinsel, recht launig: In seinem Rückblick zum 40-jährigen Bestehen erzählt er, dass sich beim Augenschein «dieser oder jener Anstrich als noch zu frisch und darum ‹kopierbar› am eigenen Gewande» erwiesen habe. Insgesamt seien aber die Innenräume bezugsbereit und «freundlich ausstaffiert» gewesen.

Alle 12 zusammengebauten Einfamilienhäuser (in drei Blöcken zu 5, 4 und 3 Häusern) waren gleichartig ausgeführt, die Genossenschafter (und die -innen?) konnten bloss bezüglich verschiedener Details des Innenausbaus Wünsche einbringen. So wiesen die Häuser im Kellergeschoss einen Vorkeller, einen Luftschutzkeller und eine eigene Waschküche auf. Vom Erdgeschosskorridor gingen die Küche, ein grosses und kleines Zimmer sowie das WC ab, und im Obergeschoss hatte es ein Eltern- und zwei Kinderzimmer sowie ein Bad mit WC. Sehr privat das Ganze, das galt selbst für den Pflanzplatz vor der jeweiligen Haustür. Eigentlich waren die Teppichklopfstangen und die Aussenwäschehängen die einzigen gemeinschaftlichen Objekte in der Siedlung… Da stellt sich natürlich die Frage nach dem Genossenschaftsgeist, der in den Reussinsel-Häuschen gepflegt wurde. Und dazu soll jetzt noch der «Reussinsel Bote» konsultiert werden, das Mitteilungsblatt der BRL, damals noch unter der Adresse Dammstrasse 28-50.

Das komplette Titelblatt des «Reussinsel Bote» 1/1944
Das komplette Titelblatt des «Reussinsel Bote» 1/1944

Eine kleine Zeitung für ein kleines Quartier

Vom Reussinsel Boten gibt es gerade mal neun Nummern. Er wurde 1944 mit Elan lanciert, um den Gemeinschaftsgeist der «Reussinselfamilie» zu fördern. Aber nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zog dann die Konjunktur an, und die Gewerbler waren alle zu beschäftigt, um noch regelmässig eine Siedlungszeitung herauszugeben… und so endete ihr Erscheinen 1946 bereits wieder.

Bezugnahmen im Blatt zu den Umständen von Krieg und Kriegsende waren wie erwähnt eher selten, im Geleitwort wurden ab und zu aktuelle Fragen der Zeit angeschnitten und die schwierigen Zeiten erwähnt. Wichtiger jedoch waren die Auswertungen der periodischen Hauskontrollen!

Zwar konnte die Verwaltung meistens «zufrieden mit den Hausgeistern» sein, aber es waren doch öfters mahnende Worte zu lesen: «Auch Lichtschächte und Dolendeckel müssen sauber gehalten werden!» oder «Wir bitten die, die es angeht, ein letztes Mal, unsere Hausfassaden von Wäsche- und Kleidungsstücken freizuhalten, ganz speziell an Sonn- und Feiertagen.» Als 1946 das Gelände Richtung St.-Karli-Brücke «endlich», wie die Macher des Mitteilungsblattes schrieben, mit Rasen bepflanzt werden konnte, war weiter zu lesen: «Sorgt im 1. Block nun dafür, dass niemand den Rasen betritt, auch die Kinder nicht!» Man kann nur hoffen, dass das heute anders ist (wobei es in dieser Siedlung aktuell kaum noch Kinder gibt).

Der Zeitung ist trotzdem ein starkes Bemühen um den Gemeinschaftssinn anzumerken. Es wurde zudem einiges organisiert: Kegelabende und Jassturniere, gemeinsame 1.-August-Feiern und Ausflüge. Regelmässig finden sich aber auch Klagen darüber, dass viele nicht am Gemeinschaftsleben teilnähmen.

Ob eher der gemeinschaftliche oder doch stärker der private Geist die Oberhand bekam, muss etwas offen bleiben. Immerhin schlägt bereits in der Nummer 2 des Reussinselboten der Grundton von ‹My home is my castle› durch: «Es scheint nun doch die Zeit gekommen, wo man von den Mietskasernen absieht und auch dem weniger begüterten Bürger zu einem eigenen, sonnigen, Heim verhelfen kann.»

Dass es mit dem Genossenschaftsgedanken nicht allzu weit her war, zeigt folgende spätere Entwicklung: Als einige Gründungsmitglieder verstorben oder weggezogen waren, schienen die nachfolgenden Bewohner:innen vergessen zu haben, dass sie zu einer Baugenossenschaft gehörten – und verkauften ihr Häuschen, entgegen jeglicher Satzung… Als dieser Missstand bis ins Stadthaus drang, musste er umgehend behoben werden, und 1993 wurde eine Neugründung der Genossenschaft nötig.

Und jetzt?

Nach dem Ablaufen des ersten Baurechts 1983 und dem Jubiläumsjahr mit Festschrift & Co. wurde der Baurechtsvertrag noch mehrmals verlängert, selbstredend halt in kürzeren Laufzeiten. Und als jetzt das Jahr 2023 und mit ihm das erneute Ablaufen des Vertrags nahte, hätten die Genossenschafter:innen gemäss BRL-Präsident Roger Gaillard das Baurecht gerne nochmals verlängert gesehen. Allerdings wäre aus seiner Sicht eine wieder längere Laufzeit nötig gewesen, um die nötigen Investitionen tätigen (und abzahlen) zu können. Die Stadt hatte mit dem Areal allerdings andere Pläne, weil sie nach Möglichkeit baulich verdichten will. Da aber auch die Umsetzung eines überregionalen Rad- und Wanderwegs der Reuss entlang hängig ist, zeigte sich, dass die baulichen Spielräume begrenzt sind – zwischenzeitlich blieb eine solitäre Hochhausbaute in den Planskizzen übrig. Die Abklärungen zum Entwicklungspotential bei den Brückenköpfen ergaben am Ende drei Varianten einer Neugestaltung, die der Quartierbevölkerung vorgelegt wurden. Jene, die sich an der Konsultativabstimmung beteiligten, votierten klar für einen neuen öffentlichen Freiraum, den sog. Reusspark (von der Strasse vorne an der St.-Karli-Brücke bis hin zum neuen axa-Gebäude).

Skizze zum geplanten Reusspark (Illustration: Stadt Luzern)
Skizze zum geplanten Reusspark (Illustration: Stadt Luzern)

Dass die Reussinsel als Insel bereits verschwunden ist, ist seit Jahrzehnten offensichtlich. In absehbarer Zeit wird nun also auch der Baugenossenschaft gleichen Namens dasselbe Schicksal blühen. Den jetzigen Bewohner:innen bleibt die kleine Hoffnung, dass es heute weniger schnell geht mit der Umsetzung von Bauprojekten als 1943…

Wo heute noch zwölf Häuser der Baugenossenschaft Reussinsel stehen, soll künftig eine grüne Freifläche entstehen. (Bild: Google Maps)
Wo heute noch zwölf Häuser der Baugenossenschaft Reussinsel stehen, soll künftig eine grüne Freifläche entstehen. (Bild: Google Maps)

Quellen:

  • Bühlmann Harry, Industrie auf der Reussinsel und 40 Jahre Baugenossenschaft Reussinsel Luzern (Festschrift), Luzern 1983
  • Baugenossenschaft Reussinsel: Reussinsel Bote 1-9, Luzern 1944-1946
  • Zeitungsartikel: Luzerner Tagblatt 6.9.1943 sowie 17.3.1983
  • Mischa Gallati, Einblicke in das Inselleben (60 Jahre Wohnsiedlung auf der Reussinsel), Sentipost 3/2004, Luzern
  • Hans Jurt, Die Reussinsel: Neues Wohnen am Wasser, in: Zeitensprünge und Grenzgänge (Hrsg. Verein UntergRundgang), Luzern 2019

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