Da wo soziale Unterschichten sich in engen Wohnungen drängen, Gestank und Lärm die Lebensqualität mindert, da schaut auch der Heimatschutz von Luzern nicht mit Argusaugen auf schützenswerte Gebäude. Zwischen Kasernenplatz und Kreuzstutz herrscht seit Jahrzehnten die Radikalkur mit oft zweifelhaft architektonischen Ergebnissen vor.
Da wo soziale Unterschichten sich in engen Wohnungen drängen, Gestank und Lärm die Lebensqualität mindert, da schaut auch der Heimatschutz von Luzern nicht mit Argusaugen auf schützenswerte Gebäude. Zwischen Kasernenplatz und Kreuzstutz herrscht seit Jahrzehnten die Radikalkur mit oft zweifelhaft architektonischen Ergebnissen vor.
Wir beginnen mit einer Tour am Kasernenplatz. Hier erinnert nur noch der Name an die einst grosse Kaserne für 1’600 Soldaten. 1971 hantierten hier die Baggerführer und Sprengmeister. Auch das Hochstrasser-Haus, ein «dominanter Kopfbau zwischen Gothik und Jugendstil», so Beat Wyss, musste der neuen Auffahrt der Nationalstrasse weichen, wie auch das Waisenhaus, das nun als Replikat das Naturmuseum beherbergt.
Von der Bruchstrasse zur Abbruchstrasse
Bald wird unser kleines Grüppchen von Historikern, Volkskundlerinnen und Quartierkennern auch in der Bruchstrasse 20 Archivbilder hochhalten. Denn 2017 wird hier die Abrissbirne regieren und das 1864 gebaute «Haus am Bruch» in ein «Haus des Abbruchs» verwandeln. Für ein denkmalschützendes Gütesiegel hat es nicht gereicht. «Von keinerlei historischer Bedeutung» heisst das Todesurteil des Stadtarchitekten.
Was eben zeigt: Für die Denkmalschützer steht ganz und gar das ästhetisch-architektonische im Vordergrund. Dass auch Häuser armer Leute Geschichte erzählen können, kommt bei der Beurteilung kaum zum Zug. Der «Schützengarten» hält aber viele Geschichten bereit. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts war hier der Viehmarkt. Knechte und Kleinbauern versammelten sich im Schützengarten, die reichen Bauern und Viehhändler nicht weit davon im «Galliker». Noch Anfang der 1990er Jahre wurde diese Tradition auf der Speisekarte hochgehalten und war das Restaurant in der Bruchstrasse 20 das einzige Lokal, indem man «Alpeneier» (sprich: Munihoden) bestellen konnte.
Das alte Gebäude des Luzerner Tagblatt, sozusagen für mehr als ein Jahrhundert das Kraftwerk freisinniger Lokalpolitik, ist 2002 auch dem schnellen Zyklus der einstürzenden Altbauten geopfert worden. Von dort aus hatte ein Lokaljournalist auf die Bruchstrasse ein Bild geschossen. Traktoren und Viehtransporter stauten sich dort immer zu Wochenanfang. Viehmarkt-Zeit! Den Duft von Mist in der Nase provozierte in der Redaktion immer wieder Artikel zu den Fragen: Sind die mit Kuhfladen übersäten Strassen einer Fremdenstadt wie Luzern würdig? Sind die Zustände nicht hygienisch bedenklich? 1971 musste dann der Viehmarkt weichen.
Carl Spitteler an der Bruchstrasse 20
Eine ganz andere Geschichte wird mit dem Abriss ausgelöscht: die Jugendwirren Carl Spittelers. Im Spätherbst 1864 stand er zerlumpt und psychisch verwirrt vor dem neu errichteten Haus. Der l9-Jährige war zwei Monate zuvor aus dem Elternhaus geflüchtet, irrte mit kaum Geld im Portemonnaie in der Schweiz herum, bis er schliesslich in Luzern völlig erschöpft anlangte. «Da fand ich bei edlen Menschen Asyl», sollte der Literaturnobelpreisträger später bekennen. Sein Freund Josef Viktor Widmann hatte ihm die Adresse des Luzerner Fotografen Gerold Vogel, wohnhaft im Parterre der Bruchstrasse 20, zugesteckt. Vor allem aber die junge Frau des Luzerner Beamten und Hausbesitzers, Josefa Rüegger, sollte Spitteler zur Seite stehen, um aus seiner Lebenskrise herauszufinden – ein biographisches Schlüsselerlebnis, das den arrivierten Dichter veranlasste, 1892 seinen Wohnsitz in Luzern zu nehmen.
Delf Bucher