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Luzerns Gotthard-Träume: Abrissbirne über dem Untergrund

Anfang der 1870er-Jahre herrscht in Luzern Gotthard-Fieber. Das halbe Quartier Untergrund sollte für den neuen Bahnhof flach gelegt werden. Bald erfolgte allerdings das bittere Aus für das Projekt. Auf den Anschluss an die Gotthardbahn musste Luzern bis 1897 warten. Delf Bucher wirft einen Blick zurück.

Gotthard! Gotthard! Alle Stadtgespräche in Luzern drehen sich 1874 um das Jahrhundertbauwerk. Petitionen, Versammlungen und unzählige Zeitungsberichte vom Bund bis zur «NZZ» illustrieren: Luzern ist im Gotthard-Fieber. Endlich soll die nach dem Sonderbundkrieg gebeutelte Leuchtenstadt wieder ihren alten Glanz zurückgewinnen und eine internationale Zugdrehscheibe werden.

Vor allem die Stadt Luzern hat sich nicht lumpen lassen und 1,2 Millionen Franken in den Fonds für den Bau des Gotthard-Projekts eingezahlt. Zusammen mit 800’000 Franken vom Kanton ist Luzern so einer der grössten Geberkantone. Gegen den Willen des Eisenbahnbarons Alfred Escher hat sich die Stadt die Zusage erkauft, dass der Sitz der Direktion der Gotthardbahn in Luzern ist.

Ein Schandfleck muss verschwinden

Allein in den Gotthardbahn-Werkstätten sollen 800 neue Stellen geschaffen werden. Zählt man die Familienangehörigen dazu, so heisst das: Der bereits in Gang gesetzte Bevölkerungsboom wird bald weitere 3000 neue Einwohner verzeichnen.

Das alte hölzerne Provisorium, der Bahnhof von 1859, der schon damals als eine Beleidigung für die Fremdenstadt wahrgenommen wurde, sollte nun Geschichte sein. Immerhin war Luzern ein Tourismus-Hotspot, in dem sich erlauchte Monarchenhäupter, Millionäre und Minister in den Nobelherbergen wie dem Schweizerhof betteten.

Bahnhofsträume in allen Quartieren

Hof und Wey setzten auf einen neuen Bahnhof an der Halde, den schon Oberingenieur Gerig als den Favoriten der Gotthardbahn mit detaillierten Plänen ins Spiel gebracht hat. Ganz anders gelagert sind die Visionen im Quartier Untergrund. Bereits 1857 opponierte das Quartier gegen den Standort an der Seebucht Fröschenburg.

Sattler, Wagner, Kolonialwarenhändler, das ganze Gewerbe, das sich entlang der Baselstrasse niedergelassen hatte, wollten mit dem Bahnhof wirtschaftlich verwoben sein. Gemeinden aus dem Luzerner Hinterland und Entlebuch stellten sich wie schon 1859 wieder hinter die Forderung des Untergrunds. Die von französischen Investoren alimentierte Basler Centralbahn war anno 1859 dagegen. Sie wollte den Endbahnhof mit einer Dampfschiffstation am See kombinieren.

Megabahnhof mit 22 Gleisen

Jetzt aber erhielten die alten Träume vom «Bahnhof Untergrund» neuen Auftrieb. Dafür sorgte auch der russisch-schweizerische Ingenieur Blotnitzki, der mit der amtlichen Autorität des ersten Inspektors des neu gegründeten «Eidgenössischen Eisenbahndepartments» auftrat. Unumstössliche Maxime des Experten: Wenn Luzern eine bedeutende Rolle im internationalen Waren- und Personentransit spielen will, braucht es einen Durchgangsbahnhof.

Am Reissbrett löschte er mit einem Federstrich die bebaute Zone zwischen altem Gefängnis (heute Sentihof) und Kreuzstutz aus. Auf diesem Trümmerfeld sollte ein Megabahnhof mit 22 Gleisen entstehen. Von der Warte des Jahres 2024 aus betrachtet ist klar: Der Widerstand der Quartierbewohnerinnen und -bewohner ist vorprogrammiert. 1874, als die Menschen fortschrittsoptimistisch vom Eisenbahnbau euphorisiert waren, stimmten die Bewohner des Untergrunds dem Projekt überschwänglich zu.

Aus für das Blotnitzki-Projekt

400 bis 500 Männer hat das «Luzerner Tagblatt» gezählt, die sich am 21. Januar 1874, also genau vor 150 Jahren, im Stadttheater eingefunden haben. Einhellig sprachen sie sich für das Blotnitzki-Projekt aus. «Mit dem Untergrundprojekt hat Herr Blotnitzki Luzern betört und dadurch sehr viel beigetragen, dass die Bahnhofsfrage zur eigentlichen Seeschlange herangewachsen ist», schrieb damals die «NZZ».

Aber in der Fussnote der verabschiedeten Resolution wurde schon der Pferdefuss des Plans angetönt:  Reicht der Platz für den Bahnhof wirklich aus? Immerhin ging die Planung der Gotthardbahn-Gesellschaft von einem Platzbedarf von 120 Jucharten, also 40 Hektaren, für Bahnhof, Schuppen und Rangiergelände aus. Bei aller Wucht, wie Blotnitzki die Abrissbirne auf ganze Häuserreihen donnern lassen wollte: Auf dem Reissbrett kamen nur maximal 50 Jucharten zusammen, selbst wenn man das Flussbett der Reuss Richtung Bramberg verschiebt.

Trostpflaster für den Untergrund

Auf diesen wunden Punkt legten die Befürworter des Projekts Halde-Bahnhof den Finger. Zusammen mit der Gotthardbahn plädierten die Quartierbewohner von Hof und Wey, und was vielleicht noch wichtiger war, auch die Hoteliers vom Quai, für den Standort Halde. Die Centralbahn dagegen wollte, wenn schon nicht der Bahnhof Untergrund realisiert wird, einen grösseren Neubau am bestehenden Ort errichten.

Immer neue Projekte wurden verhandelt: Seeüberquerende Brücken zwischen Fröschenburg und Halde oder ein Tunnel unter der Museggmauer. Eines blieb aber konstant: Ein Durchgangsbahnhof sollte es sein. Und wenn auch der anfangs so heiss diskutierte Untergrund-Bahnhof ad acta gelegt wurde, fehlte eines als Trostpreis in keinem der Pläne: eine Haltestation für den einfahrenden Regionalverkehr im Untergrund.

Finanzielle Schieflage

1875 war dann Schluss mit der erhitzten Diskussion. Depression machte sich breit. Die Gotthardbahn-Tunnelbauer hatten den Worst Case bei ihrer Finanzplanung nicht auf der Rechnung: Der Vortrieb des Tunnels im kristallinen Granit- und Schiefergestein ging wesentlich langsamer voran als vorgesehen. Kam noch der europaweite Konjunktureinbruch in Europa hinzu. Das Geld wurde knapp, und der Rotstift wurde ausgerechnet bei der geplanten Verbindungslinie Luzern-Immensee angesetzt.

Trotz den vielen Geldern von Stadt und Kanton sollte dieser Streckenabschnitt aus dem Bauprogramm gestrichen werden. Der antimodernistische und gegen die Eisenbahn eingestellte Philipp Anton von Segesser fühlte sich als Warner bestätigt. Früh hatte der Führer der Katholisch-Konservativen die Befürchtung geäussert, dass die Gotthardbahn sein «Vaterland Luzern» in eine finanzielle Bredouille bringe.

Der Geldhahn wird zugedreht

Mit antisemitischen Invektiven verkündete er im Dezember 1876 im Grossen Rat: «Die Gotthardbahn hat die Judenherrschaft, die miserable deutsche Finanzwirtschaft in unser schönes Vaterland gebracht.» Ein Zahlungsboykott an die finanziell gebeutelte Gotthardbahn sollte die Antwort sein. Aber die Luzerner wollten auch nicht die Totengräber des Gotthard-Jahrhundertprojekts sein und schossen schliesslich zähneknirschend für die in finanzielle Notlage geratene Gotthardbahn weiteres Geld ein.

1880, als neuer Geldbedarf vermeldet wurde, wollte aber die Stadt Luzern nicht mehr mitmachen. Wieder strömten Menschen ins Stadttheater, machten ihrem Unmut Luft und forderten von der Stadt einen Zahlungsstopp. Tatsächlich riskierte die Stadt den Gang zum Bundesgericht, verlor und zahlte Prozesskosten wie Verzugszinsen. Schliesslich landeten die Pläne in der Schublade.

Eisenbahnfähre statt Gleisanschluss

Neue Hoffnung wollte der Luzerner Ingenieur Strupler, Experte des Vereins der Dampfkesselbesitzer, unter seinen enttäuschten Landsleuten verbreiten. Seine Idee: Zwei Trajektschiffe, also Eisenbahnfähren, sollten ihre Bahnen zwischen Luzern und Flüelen ziehen. An Deck beladen mit 20 Waggons wäre der Gütertransit gewährleistet. Struplers Idee war nicht ganz neu: Bereits 1869 pendelten solche Fähren vom Thurgauer Romanshorn zum württembergischen Friedrichshafen.

Trotz optimistischer Kalkulationen des Ingenieurs traute sich in Zeiten von Bahn- und Bankenpleiten kein Risikokapitalist Geld für die seequerende Fähre für Güterwaggons einzuschiessen. Mit den Bahnträumen ging auch das Bankhaus Knörr unter, welches das grosse Hotelprojekt Europe vorfinanzierte. Die Bauherren hatten mit dem Halde-Bahnhof gerechnet und sich verspekuliert. Erst 1890 sollte dem schubladisierten Projekt der Linie Luzern-Immensee wieder neues Leben eingehaucht werden.

«Einsteigen nach Arth-Goldau»

Am 30. Mai 1897 ging der lang ersehnte und teuer erkaufte Bahnhofstraum für Luzern in Erfüllung (zentralplus berichtete). Die Linie Immensee wurde eröffnet und damit der direkte Zugang zur Gotthardbahn. Endlich sollte im neu erbauten Kuppelbahnhof der Ruf des Kondukteurs erschallen: «Einsteigen nach Arth-Goldau». Der Umweg über die «verdriessliche Haltestation Rotkreuz» mit der «langweiligen Strecke» durchs Rontal, so schreibt es der Redaktor des «Vaterlands», sei nun Geschichte.

Der Journalist des katholisch-konservativen Leitorgans ist schon am Vorabend der Linieneröffnung in Ekstase geraten. «Überwältigende Gotteskunst» erblickt er am Abendhimmel, welches durch sein «menschliches Ebenbild» ergänzt werde. Denn vom Pilatus wälzten sich «Feuerschlangen, eine um die andere über die jähen Felsen hinunter». Dazu spielte am Quai der Kapellmeister des Schweizerhofs auf. Die Stadt war mit Fahnen festlich geschmückt.

Ökonomisch unbedeutend

Was an dem sonnigen Eröffnungstag so euphorisch von der Luzerner Bevölkerung begrüsst wurde, war eigentlich eine Schimäre. Luzern–Immensee sei eine pittoreske Strecke voller landschaftlicher Schönheiten, aber volkswirtschaftlich unbedeutend, vermerkte die NZZ wenige Tage nach der Eröffnung. Nur widerwillig unterwarf sich der für die Gotthardbahn verantwortliche Bundesrat Welti der vertraglichen Verpflichtung, die ökonomisch unbedeutende Zufahrtslinie Immensee zu realisieren.

Schon 1890 warnte der Eisenbahnfachmann und Ingenieur Alexander Lindner in einem Vortrag, dass Luzern zu sehr fixiert sei auf die einst im Vertrag 1863 definierte Zufahrt nach Immensee: «Mit der Bahn Luzern-Immensee ist Luzern ein Anhängsel der Gotthardbahn; ein kleiner Arm geht nach dem Gotthard, aber Luzern ist auf die Seite gestellt.»

Der erste und unglamouröse Luzerner Bahnhof (1859 bis 1895). (Bild: zvg)
Der erste und unglamouröse Luzerner Bahnhof (1859 bis 1895). (Bild: zvg)

Luzern als Hauptknotenpunkt

Sein bahnbrechender Vorschlag: Die Errichtung einer linksufrigen Bahn Richtung Stans, Beckenried nach Altdorf würde den Zubringer Rotkreuz–Arth-Goldau aufgrund des kürzeren Weges ausstechen und damit Luzern als Hauptknotenpunkt der Gotthardbahn etablieren.

Oberst Geisshüsler, Präsident der Luzerner «Gesellschaft für Industrie und Handel», unterstützte Lindners Bahnvision. Aber Luzern blieb auf Immensee fixiert. Auch der Kanton Schwyz pochte auf den Vertrag, dass die Immensee-Zufahrt gebaut werde.

Gotthard-Drehscheibe bleibt ein Traum

Für Luzern war der Zug also abgefahren, um als Gotthard-Drehscheibe ein bedeutender europäischer Verkehrsknotenpunkt zu werden. Trotzdem brachte der Bau der Immensee-Zufahrt einiges in Bewegung. Ein neuer, der Fremdenstadt Luzern angemessener Bahnhof sollte her.

Das «Tagblatt» begrüsste 1890, dass der Stadtrat Druck gegenüber der Centralbahn aufbaute, um dem Bahnhofsprovisorium nach 30 Jahren «skandalöser Erbärmlichkeit» ein Ende zu bereiten. Die Luzerner Station, so das liberale Zentralorgan, sei eine «monumentale Bretterbude, die ihresgleichen auf dem europäischen Kontinent sucht». Das geduldige Stillstehen in der Bahnhofsfrage sei ein symbolträchtiges «Denkmal des luzernischen Langmuts».

Kathedrale mit Kuppel

In einer unmissverständlichen Eingabe an das Eidgenössische Eisenbahndepartement forderte nun die Stadt einen neuen Bahnhof mit allermodernster Betriebstechnik. Dieses Mal verpuffte der Widerstand der Centralbahn. In nur zwei Jahren von 1894 bis 1896 wurde ein repräsentativer Bau am See errichtet.

Frohgemut schlenderte am Eröffnungstag am 31. Oktober 1896 der «Vaterland»-Redaktor durch Hallen, Wartesäle und Restaurationsbetriebe. Er bestaunte Skulpturen und Steinornamentik und vor allem die 44 Meter hohe Kuppel, für ihn «ein neues Wahrzeichen in der Stadt der Türme». Die religiös anmutende Sakralität des einzigen Schweizer Bahnhofs mit einer Kuppel wurde von der «Schweizerischen Bauzeitung» kritisiert. Das katholische «Vaterland» nahm indes keinen Anstoss daran.

Eiserner Gürtel gesprengt

Noch wichtiger als der Kuppelbahnhof war aber die neue Linienführung, die Ingenieur Lindner konzipiert hatte. In dem um 90 Grad gedrehten Bahnhof sollten alle einmündenden Bahnlinien zusammenlaufen und die bestehenden Niveauübergänge der Hirschmattstrasse, der Obergrund- und Baselstrasse beseitigt werden.

Schon lange währte die Klage der Quartiervereine über das stundenlange Warten vor Rollbarrieren. Eine Verkehrszählung an einem Maiensonntag 1889 an der Baselstrasse illustriert dies eindrücklich: Dreieinhalb Stunden blieb die Strasse gesperrt, die von 14’537 Fussgängern, 237 Fuhrwerken und vier Stück Vieh passiert wurde.

Die einstige Rollbarriere. Wo heute die Eisenbahnbrücke über die Baselstrasse geht. (Stadtarchiv Luzern)
Die einstige Rollbarriere. Wo heute die Eisenbahnbrücke über die Baselstrasse geht. (Stadtarchiv Luzern)

Mit dem Bau des erhöhten Gütschtunnels gelang es nun, die vom «eisernen Gürtel» abgeschnittenen Gebiete zu erschliessen, was beispielsweise dem Neustadt-Quartier seinen Namen gab. Der Kunsthistoriker Beat Wyss bezeichnet deshalb die neue Linienführung, die Drehung des Bahnhofs, als das «grösste städtebauliche Unternehmen der zweiten Jahrhunderthälfte» in Luzern.

Untergrund-Station scheitert

Der Untergrund war nun zwar von der lästigen Barriere befreit. Auf der anderen Seite hatte dies aber erneut einschneidende Konsequenzen für das Quartier. Denn mit dem Tunnelausbruchmaterial des Gütschtunnels wurde zwischen Sentimatt und Fluhmühle ein vier Meter hoher Damm aufgeschüttet, um so den Verkehr an der Baselstrasse zu entflechten.

Lindner-Plan: Die Drehung des Bahnhofs um 90 Grad: folgenreich für die Stadtentwicklung von Luzern. (Bild: Staatsarchiv)
Lindner-Plan: Die Drehung des Bahnhofs um 90 Grad: folgenreich für die Stadtentwicklung von Luzern. (Bild: Staatsarchiv)

Das aufgeschüttete Gleisbett war notwendig geworden, damit die Züge auf der Stammlinie auf gleichem Niveau liegen wie die für den Luzerner Gotthardanschluss gebaute Sentimattbrücke, die als eine Eisenbrücke bis heute die Reuss überquert.

Auch der lang gehegte Traum von einer eigenen Station, die Anfang der 1890er-Jahre immer noch in den Planskizzen eingezeichnet war, scheiterte. Vergessen war er indes nicht: 75 Jahre später, als der Kuppelbahnhof in Flammen stand und damit wieder neue Bahnvisionen diskutiert wurden, wurde die Idee reaktiviert.

Am 5. Februar 1971 brannte der Bahnhof Luzern. (Bild: Hans Schürmann/AURA)
Am 5. Februar 1971 brannte der Bahnhof Luzern. (Bild: Hans Schürmann/AURA)

Wie schon zuvor sollte der geplante S-Bahnhalt Untergrund auf der Strecke bleiben. Vielleicht wird es dem Luzerner Tiefbahnhofprojekt nicht unähnlich gehen wie den Visionen von der grossen Gotthard-Drehscheibe oder der Haltestation Untergrund: Die Pläne landen in den Archiven als ein weiteres Denkmal von «luzernischem Langmut».

Quellen:

  • Broschüren des Vereins UntergRundgang, Das andere Luzern, 1995/Transit 2009
  • Heidi Bossard-Borner: Vom Kulturkampf zur Belle Epoque, Verlag Schwabe, 2017
  • Karim Gallati, Claus Niederberger, Werner Stutz: Luzerner Chronik: zur Vorgeschichte des heutigen Bahnhofs, Zeitschrift Archithese 1977
  • Diverse Tageszeitungen

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