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Pfarreigeschichte im Spiegel eines Tagebuchs

100 Jahre Pfarrei St. Karl Luzern

Im Rahmen der Recherchen für einen geschichtlichen Rundgang zum hundertsten Geburtstag der katholischen Pfarrei St. Karl in Luzern fand sich im Pfarreiarchiv ein Tagebuch des ersten, langjährigen Pfarrers Gottlieb Moos, der 36 Jahre dort wirkte. In einem Leseexperiment sollen jene ersten Jahre und Jahrzehnte nachvollziehbar gemacht werden. Auch hier fragt sich natürlich, worauf sich in diesem Tagebuch das Augenmerk richtet und was ausgeblendet wird. UntergRundgänger Urs Häner hat das Tagebuch neu gelesen.

Es beginnt vertraut für Luzerner Ohren: «1. Oktb. 1922 Regen in Strömen! Ein Auto bringt den Hochw.sten Stiftsprobst Dr. Franz v. Segesser, Stadtpfarrer Ambühl Jos., Pfr. Müller Rob. & den Schreibenden nach St. Karl. Ein neuerbauter Betsaal wird vom Hochw.sten Stiftsprobst eingesegnet, & der erste Seelsorger der neuerrichteten Pfarrei, G Moos, Vik. z. St. Paul eingeführt. Hochamt & Predigt hält der neu eingeführte Seelsorger & hält auch beim darauffolgenden Jugendgottesdienst die erste Ansprache an die Kinder. Das Amt wird gesungen von den Chorknaben von St. Leodegar unter Direktion v. Stiftskaplan Frey, am dritten Sonntag bereits der neue Kirchenchor unter der Direktion Dr. P. Hilber.» Die Kulisse ist gebaut, das Personal präsentiert, der Vorhang kann aufgehen.

Schon länger hatte es Bemühungen gegeben, für die pastorale Arbeit in jenem Gebiet eine eigene Kirche zu errichten. Denn das St.-Karli-Gebiet bis zum Ibach gehörte zur Pfarrei St. Leodegar im Hof, während linksufrig das Untergrundquartier der Pfarrei Sta. Maria zugeschlagen war – weite Wege also, die sich ungünstig auswirkten auf die Möglichkeiten seelsorgerlicher Betreuung. Bereits während des Ersten Weltkrieges wurde daher Geld gesammelt für eine «Friedenskirche», aber es brauchte noch einige Efforts, bis 1922 der erwähnte «Betsaal» bezogen werden konnte, am Standort des heutigen Pfarreizentrums St. Karl. Das Personal für die «Bespielung» dieses neuen Raums, der als einfach, nüchtern und auf das Notwendigste beschränkt beschrieben wird, stammte aus den bereits vorhandenen Pfarreien: Den Seelsorger holte man in der Pfarrei St. Paul, die selber erst zehn Jahre vorher entstanden war, als erste ausserhalb der Kernstadt. Und den Kirchengesang steuerten die «Hofgeissen» bei, so wurden die Sängerknaben von St. Leodegar liebevoll genannt, aber das wäre eine andere Geschichte. Offensichtlich sehr rasch bildete sich in St. Karl ein eigener Kirchenchor, der also ebenfalls 100 Jahre feiern kann.

Bild des Betsaals St. Karl an der Spitalstrasse in Luzern (Foto aus: 50 Jahre Kirche St. Karl)
Bild des Betsaals St. Karl an der Spitalstrasse in Luzern (Foto aus: 50 Jahre Kirche St. Karl)

Doch weiter im Text: Zum 2. Oktb. trug Gottlieb Moos in sein Tagebuch ein, schon eine halbe Stunde vor Messbeginn sei der Betsaal «gedrängt gefüllt», weshalb er neben der Frühmesse und dem Hauptgottesdienst baldigst einen dritten Gottesdienst abhalten werde (er wird später, 1936, notieren, dass ein vierter, fünfter und sechster Sonntagsgottesdienst dazukamen… unschwer zu verstehen, wieso die Karlikirche in den Dreissigern so voluminös angelegt wurde, wie man heute nur noch staunen kann).

Eine schöne sozialgeschichtliche Miniatur ist der Eintrag zum «16. Novb. Endlich ist es möglich die Wohnung zu beziehen. Um einen Sozialisten, Vater mit zwei Kindern in dieser Zeit der Wohnungsnot nicht auf die Strasse zu stellen, ist er über die gekündete Zeit hinaus noch in der Wohnung belassen worden, bis man ihm eine Wohnung zur Verfügung stellen konnte. Allerdings brachte das für den pfarramtlichen Betrieb grosse Unannehmlichkeiten. In den ersten acht Tagen mussten die Leute nach dem Gottesdienst auf dem Platz in Audienz empfangen werden, nachher war ein kleines Zimmerchen zur Verfügung gestellt. (…) Interessant war es jeweils beim Nachtessen an den Samstagabenden (Beichtpause) wo es möglich war, mit den ächten Wirtshaushöckern Bekanntschaft zu machen. (…)»

Pfarrer Moos hatte den Ruf, ohne Berührungsängste auch in die Lokale der Arbeiter zu gehen. Die Katholiken standen dabei in einem «Wettbewerb» mit den Sozialisten, die im roten Untergrund den Ton angaben. Da wäre es natürlich sehr schlecht angekommen, einen linken Familienvater aus einer Wohnung zu werfen. Moos liess es sich übrigens Jahre später nicht nehmen, in den Beizen des Untergrundquartiers selber Abstimmungskampf für den umstrittenen Kirchenbau St. Karl zu betreiben und mit dem Argument der Arbeitsbeschaffung gerade für Menschen im Quartier dafür zu weibeln.

Das ausführliche Eintauchen in die ersten Einträge dieses Tagebuchs soll einen Eindruck vermitteln zu den Umständen und Haltungen jenes Gründungsjahres der Pfarrei St. Karl in Luzern, kann nun aber natürlich nicht einfach fortgesetzt werden.

Übrigens fand auch Pfarrer Moos oft kaum Zeit, sich seinem Tagebuch zu widmen, 1925 zum Beispiel beschränkte er sich auf die Notiz: «Gründung des Marienvereins und der Kinderkongregationen». Er war offenbar sehr bemüht, die Bevölkerung des Pfarreigebiets zu aktivieren und «katholisch» zu organisieren, im Männerapostolat, in der Katholischen Aktion, später mit der Gründung der Katholischen Arbeiterbewegung St. Karl (die übrigens im Restaurant Lädeli an der Baselstrasse stattfand). Regelmässig schwang bei allem Eifer auch eine gewisse Unzufriedenheit mit. Gottlieb Moos beklagte sich über die Religionsferne vieler, möglicherweise war im proletarischen Untergrund die Erosion der Katholizität früher fortgeschritten als im etablierten Luzern.

Über einen Eintrag in diesem Tagebuch bin ich in den jetzigen Zeiten des Ukraine-Krieges auf spezielle Weise gestolpert. Es sind die einzigen Zeilen, die sich konkret auf das Weltgeschehen beziehen. Gottlieb Moos notiert zum Jahr 1940 am 12. Mai Folgendes: «Hochheiliges Pfingstfest. Die Festtagsstimmung fehlt. Der schreckliche Krieg, der bis an die Grenzen der Schweiz wütet, lastet schwer an den Gemütern des Volkes.» Um dann gleich beizufügen: «14. Mai. Die kostbaren farbigen Fenster im Stiegenhaus zur Unterkirche, beim Seiteneingang & in der Sakristei werden herausgenommen, die festtäglichen Paramente fortgeschafft. Der Krieg droht auch die Schweizergrenze zu überschreiten.»

Dazu muss man wissen, dass der 10. Mai 1940 eine Zäsur markierte: An diesem Tag griffen Hitlers Truppen Belgien, Luxemburg und die Niederlande an, und in der Schweiz rief der Bundesrat die zweite allgemeine Mobilmachung aus (eine erste war bei Kriegsausbruch angeordnet worden). Bald war die Schweiz vollständig von den faschistischen Achsenmächten umringt, und es wurde nicht nur den Karlianern mulmig. Dass hier der Pfarrer sogleich an die Glasfenster von Hans Stocker und an die Messgewänder dachte, hatte seine Logik. Es fällt jedoch auf, wie knapp er sich hielt bei seinem Eintrag, wenn man es vergleicht mit seinen ausführlichen Schilderungen 1942, als ein Brand in der Sakristei ausgebrochen war und er sich ebenfalls vor allem Sorgen um die Paramente machte.

Zurück ins Jahr 1922: Es ist auch interessant zu sehen, worüber das Tagebuch von Pfarrer Gottlieb Moos nicht berichtete. Die Recherchen für einen Rundgang im Pfarreigebiet zum 100-Jahr-Jubiläum führten mitten in heftigste Debatten um den Bau eines Luzerner Krematoriums im Friedhof Friedental. Am 5. November 1922, also einen Monat nach dem Startschuss für die neue Pfarrei St. Karl, besuchten über 700 Personen eine Versammlung des katholischen Männervereins, wo heftig gegen die Feuerbestattung agitiert wurde. Im Tagebuch findet sich dazu keine Spur, obwohl das geplante Krematorium ja auf Pfarreigebiet vorgesehen war.

Bild vom heutigen Alten Krematorium im Friedhof Friedental (Foto: Urs Häner)
Bild vom heutigen Alten Krematorium im Friedhof Friedental (Foto: Urs Häner)

Doch der Reihe nach: Wegen des Stadtwachstums hatte der Alte Friedhof hinter der Hofkirche nicht mehr genügt, und so wurde 1885 im Friedental der neue städtische Friedhof eingeweiht, inzwischen der fünftgrösste der Schweiz.

Feuerbestattung war in Luzern lange Zeit umstritten, wo doch in anderen Schweizer Städten bereits Krematorien standen. Auch in Luzern gab es früh Pläne: Im Zusammenhang mit der Planung des neuen Friedhofs im Friedental war 1881 in einem B+A (Bericht und Antrag) des Stadtrats eine Parzelle für ein Krematorium vorgesehen, aber die Zeit war damals offenbar nicht reif dafür.

Die katholische Kirche hatte 1886 ein absolutes Verbot der Feuerbestattung erlassen (das notabene bis 1963 bestehen blieb). Denn die Kremation sei ein «Verbrechen» an der Menschheit, an der «Sittlichkeit, an der Wahrheit und Gerechtigkeit». Die Kirche sah in der Feuerbestattung ein Werkzeug von Freimaurern, Materialisten und anderen Religionsfeinden.

1905 entstand jedoch auch in Luzern ein Feuerbestattungsverein mit dem Zweck, ein hiesiges Krematorium zu errichten. Dieses Bemühen geriet dann in den klassischen Kampf zwischen Liberalen und Konservativen: Hier die freisinnig dominierte Stadt, die das Anliegen tatkräftig förderte, da die katholisch-konservative Kantonsregierung, die alle Mittel zur Verhinderung ausschöpfte. Bis vor Bundesgericht. Mehrmals.

1917 kam dann doch eine Verordnung zur Einführung der fakultativen Feuerbestattung zum Tragen, und 1922 erteilte der Luzerner Stadtrat die Baubewilligung.

Wie erwähnt wurde dagegen mobilisiert und zu einer Versammlung am 5. November aufgerufen, vor allem die erhöhte Lage des Krematoriums wurde skandalisiert. Wenig später war in einer Eingabe an den Stadtrat zu lesen: «Soll sich etwa die christgläubige Bevölkerung Luzerns das bieten lassen müssen, dass ausgerechnet gerade ob dem Friedhof übertrohnend (sic!) und dominierend das Wahrzeichen des rationalistischen Neuheidentums gebaut und erstellt wird…».

Nun, der Bau des Luzerner Krematoriums konnte nicht mehr verhindert werden, 1924 begannen die Bauarbeiten, und 1926 fand die feierliche Einweihung statt.

Im Tagebuch von Pfarrer Gottlieb Moos findet sich zu dieser Auseinandersetzung keine Notiz. Vielleicht überliess der junge Vikar das Thema gerne dem Stadtpfarrer Ambühl, vielleicht hatte er in der Startphase der Pfarrei St. Karl auch schlicht zu viel um die Ohren.

Nebenbei: Der erste Eingeäscherte in Luzern war kein Geringerer als Carl Spitteler! Aber das ist wieder eine andere Geschichte.

Quellen:

  • Archiv Pfarrei St. Karl, Luzern
  • 50 Jahre Kirche St. Karl (1934-1984), Pfarramt St. Karl, Luzern
  • Kultur des Erinnerns, hrsg. von Catrin Krüger, Offizin Verlag Zürich 2001
Seite 1 des Tagebuchs von Pfr. Gottlieb Moos (aus dem Archiv Pfarrei St. Karl)
Seite 1 des Tagebuchs von Pfr. Gottlieb Moos (aus dem Archiv Pfarrei St. Karl)

100 x 100 Schritte im Quartier

Samstag, 2. Juli, 10.00 – 12.00 Uhr, Treffpunkt beim Pfarreizentrum St. Karl

Wir machen uns auf historische Spurensuche im Pfarreigebiet St. Karl, diesmal hauptsächlich auf der linksufrigen Seite. Wir sehen Bekanntes, hören Geschichten und entdecken Verborgenes. Mit UntergRundgänger Urs Häner. Anmeldung bis Freitag, 1. Juli, mittags an das Pfarreisekretariat.

Ein Gedanke zu „Pfarreigeschichte im Spiegel eines Tagebuchs“

  1. Sehr spannend, die Auszüge aus Pfarrer Moos‘ Tagebuch! Sovieles bekannt und doch aus einer anderen Zeit gegriffen. Danke Urs für die aufwendigen Recherchen, die du mit viel Fingerspitzengefühl betreibst!

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