Reformation fand bei der Bildungselite Anklang
Reformation und Innerschweiz sind keineswegs ein Gegensatzpaar. Vor allem die Bildungselite in Klöstern und Stiftsschulen war elektrisiert vom neuen Glauben. Die Bauern und die vom Soldwesen profitierenden Kreise hingegen standen der Reformation ablehnend gegenüber.
Reformation in der Innerschweiz – das verhält sich so widerstrebend zueinander, als wenn Vertreter der Occupy-Bewegung plötzlich die Geschäftsleitung der UBS übernehmen würden. Hand aufs Herz – eine kleine Strassenumfrage in Luzern oder Zug würde ergeben, dass kaum jemand eine gemeinsame Schnittmenge zwischen Reformation und Innerschweiz entdecken würde.
Bei uns im Team des UntergRundgangs hat sich eine kollektive Vorstellung festgesetzt: Unsichtbar habe sich im 16. Jahrhundert zwischen dem reformatorischen Kraftort Zürich und der Innerschweiz ein unüberwindbarer Gebirgszug aufgetürmt. Ehrlich gesagt, habe ich als schwäbischer Zuzüger, den es Mitte der 1990er Jahre in die Schweiz verschlagen hat, ebenso gedacht. Der Begriff «katholische Stammlande» hat meinen Blick dafür verstellt, dass die Zentralschweiz in Verbindung mit der Reformation gebracht werden könnte.
Fromm und versoffen
Schon rein visuell trumpft hier der Katholizismus auf: Mit der Pracht der Wallfahrtskirchen, wie dem Kloster Einsiedeln oder Hergiswald. Dann begegnen einem beim Wandern die vielen Kapellen, angefüllt mit Katakombenheiligen. All das brachte mir die Aussage des Gegenreformators Karl Borromäus näher. Der Mailänder Bischof lobte bei seiner Visitationsreise in die Innerschweiz die besonders innige Glaubensbeziehung des Völkchens hier. Wenn dem hohen Besuch von ennet dem Gebirg auch die tief verwurzelte Frömmigkeit gefiel, so kritisierte er eines: Nach der Messe hätten sich die männlichen Kirchgänger oft dem Suff hingegeben.
Nun aber habe ich mich längst von der Vorstellung verabschiedet, dass scheinbar ein katholischer Gott seine schützende Hand über die Zentralschweiz gehalten hat. Als wir vom «UntergRundgang» zu Jahresbeginn zusammen mit dem Theologieprofessor Markus Ries und dem reformierten Pfarrer Beat Hänni einen Reformationsrundgang zum Anlass des 500-jährigen Reformationsjubiläums in Luzern planten, war ich überrascht: Beim Brainstorming fielen uns so viele reformationsgeschichtliche Stationen und Stichwörter ein, dass wir locker einen 24-stündigen Geschichtsmarathon zusammentragen könnten. Wir werden dementsprechend im August die abgespeckte Version eines zweistündigen Rundgangs starten.
Reformiertes Einsiedeln
Auch der Historische Verein Zentralschweiz (HVZ) trat mit einer Tagung Ende Januar den kulturkämpferisch geprägten Legenden über Reformation und Gegenreformation entgegen. Bereits das Klosterdorf Einsiedeln zeigt: Wenn auch der ganze Klosterbezirk heute von einer katholischen Patina überzogen ist, Einsiedeln könnte – wenn das historische Bewusstsein etwas geschärfter wäre – durchaus ein reformierter Erinnerungsort sein. Denn hier haben nicht nur Huldrych Zwingli aus Zürich, sondern auch sein reformierter Mitstreiter Leo Jud und der aus Zug stammende reformierte Werner Steiner als Leutpriester gewirkt. An diesem Ort wurde 1522 eine Petition von reformiert gesinnten Priestern verfasst mit der Forderung an den Konstanzer Bischof, für Weltpriester das Zölibat aufzuheben und ihnen zudem die reformierte Predigt zu gestatten.
Es waren nicht wenige Geistliche und Gelehrte in der Innerschweiz, die Luthers und Zwinglis Schriften klandestin studierten und in ihrem Giftschrank aufbewahrten. Staatlich angeordnete Visitationen zeigen: Das reformatorische Schrifttum fand in Klöstern, Pfarrhaushalten und bei einer akademisch geschulten Leserschaft Aufnahme.
Aufgrund einer Denunziation wurde beispielsweise das Kloster Sankt Urban1524 nach «lutherischen» Schriften untersucht. Die Zensoren wurden fündig. In ihrem Eifer konfiszierten sie zudem alle griechische Literatur, die unter dem Generalsverdacht stand, reformatorisch zu sein. Was auch zeigt: Der humanistische Geist, der zurück zu den Quellen drängte, war den altgläubigen Kirchenoberen suspekt.
Besonders ins Visier geriet dabei der humanistische Gelehrte Oswald Myconius, der seine Stelle als Lehrmeister wegen seiner reformatorischen Gesinnung 1522 verlor. Der Luzerner Schüler des wegweisenden Humanisten Erasmus von Rotterdam stand in engem Briefkontakt mit Zwingli und wurde später das reformierte Oberhaupt der Basler Kirche.
1522 war auch der entscheidende Wendepunkt: Immer mehr reformiert Gesinnte verliessen die Zentralschweiz aufgrund des politischen Drucks. Doch zurecht hält der Schriftsteller und Historiker Pirmin Meier bei der HVZ-Tagung fest: «In der Bildungsgeschichte der Zentralschweiz spiegelt sich die Nähe zur Reformation. Wenn die ökonomischen Interessen nicht anders gelagert gewesen wären, hätte es anders herauskommen können.»
Republikanisch gegen die kirchliche Hierarchie
Wirtschaftliche und politische Interessen, das war jahrhundertelang die gängige Argumentation, um die strikte Abweisung der Reformation in der Zentralschweiz zu erklären. Die Elite, die die Söldnerführer stellte, fühlte sich durch die Kritik der Reformatoren um ihre profitable Existenz gebracht.
Bereits 1994 machte der Berner Historiker Peter Blickle in seinem berühmten Aufsatz «Warum die Innerschweiz katholisch blieb» auf ein weiteres zentrales Motiv aufmerksam. Vieles, so die These Blickles, was sich die Bauern im Mittelland wünschten, war in der Innerschweiz längst Realität. Forderungen nach freier Pfarrwahl waren hier längst verwirklicht.
Mit einer Landkarte rund um den Vierwaldstättersee dokumentierte der Historiker Beat Kümin die These Blickles eindrucksvoll. Rund um den See häuften sich mehr als 30 Punkte von Kirchgemeinden, die sich längst aus der bischöflichen Obhut von Konstanz emanzipiert hatten. Kümin nannte als Beispiel Gersau, das sich nicht nur als Reichsdorf bis 1798 als freie Republik gehalten hatte.
Der republikanische Geist der Landsgemeinde griff dort auch auf die kirchliche Institutionen über. Der Pfarrer wurde in Gersau als ein Staatsangestellter behandelt, der seine Dienste nach einem vom Rat erstellten Pflichtenheft zu erledigen hatte. Während gerne katholisch Erzkonservative rund um den Bischof Vitus Huonder das «Staatskirchentum» als eine rein reformiert-freisinnige Erfindung denunzieren, hatte sich dieser Typus längst vor der Reformation in der Zentralschweiz etabliert.
Damit ist auch klar: Für die humanistisch Gebildeten wie Myconius ging von den Ideen der Reformation eine magnetische Anziehungskraft aus, die Bauern und Handwerker dagegen blieben immun.
Delf Bucher