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«Wer baute das siebentorige Theben?»

Erinnerung im öffentlichen Raum

Kürzlich wurde in Luzern an 200 Jahre Löwendenkmal erinnert, und bereits vor Monaten war es 150 Jahre her, dass die in die Schweiz fliehende französische Bourbaki-Armee in der Schweiz beherbergt wurde. Beide Ereignisse sind im öffentlichen Gedächtnis der Stadt durch markante Bauwerke weiterhin präsent. Weniger voluminös, aber auch dauerhaft präsent sind all die Geschichtstafeln im Stadtraum, die auf alte Bauwerke und frühere Ereignisse hinweisen wollen.

Bild 1: Die neuen Tafeln zur Erläuterung der historischen Hintergründe und Zusammenhänge beim Löwendenkmal (Foto: Urs Häner).
Die neuen Tafeln zur Erläuterung der historischen Hintergründe und Zusammenhänge beim Löwendenkmal (Foto: Urs Häner).

Auf welche Weise woran erinnert wird, ist wohl in jeder Generation wieder neu eine Frage: Worauf richten wir unser Augenmerk, was blenden wir aus?
Wie das Damals in den Köpfen des Heute verankert werden kann, darüber sinniert UntergRundgänger Urs Häner.

Auf unseren UntergRundgängen (das sind die sozialgeschichtlichen Führungen durch das Luzerner Untergrundquartier) sind Teilnehmende regelmässig darüber erstaunt, wie achtlos sie bis anhin jahrelang an gewissen Sachen im öffentlichen Raum vorüber gegangen sind, zu denen wir Geschichten ausgegraben haben. «Es gibt nichts auf der Welt, was so unsichtbar wäre wie Denkmäler», spottete schon 1927 der Schriftsteller Robert Musil über die Aufmerksamkeitsspanne der Menschen. Und er fügte bei, sie seien quasi «gegen Aufmerksamkeit imprägniert» – auffallen würde es wohl erst, wenn sie «eines Morgens fehlen sollten».

Nun, das Bourbaki-Panorama und das Löwendenkmal liessen sich nicht so einfach in die Lüfte entheben wie weiland die Lenin-Statue in Berlin. Aber die Tatsache, dass gar viele Touristinnen und Touristen achtlos am Bourbaki vorbeistapfen, weil sie unbedingt diesen Löwen fotografieren gehen wollen, schmerzt mich persönlich schon lange. Steht da nicht das Monument des modernen Bundesstaates mit humanitärer Selbstverpflichtung (immerhin hatte die Schweiz im Frühjahr 1871 in kürzester Zeit 87’000 Bourbaki-Soldaten aufgenommen) unverdient im Schatten eines Symbols für eine rückwärtsgewandte, herrschaftsfreundliche, militaristische Schweiz? Natürlich stellt sich beim Löwendenkmal sogleich die Frage, welche Erinnerung da überhaupt transportiert wird. Aus diesem Grund hat eine Projektgruppe neben einer Buchpublikation («In der Höhle des Löwen», Verlag Pro Libro) auch neue Tafeln zur Erläuterung der historischen Hintergründe und Zusammenhänge herstellen lassen (1. Bild rechts).

Grosse Namen, kleine Leute

Natürlich wären sowohl das Löwendenkmal als auch das Bourbaki-Panorama Stoff für ausführliche Auseinandersetzungen mit dem Thema Rezeptionsgeschichte. Ich möchte hier aber den Fokus auf die Frage lenken: An wen wird jeweils erinnert – und, fast bedeutsamer für mich, an wen nicht? Beim Löwendenkmal sind die Namen von 26 gefallenen Offizieren der Schweizergarde eingemeisselt, aber wieso fehlen die Namen der restlichen Gefallenen? Wo wird die Geschichte der hinterbliebenen Frau des Gardisten erzählt? Hatte er nicht Eltern, allenfalls Kinder usw.? Wieso bleibt am Ende bloss Herr Pfyffer von Altishofen hängen im Hirn?

Mir kommt dazu ein legendäres Gedicht von Bertolt Brecht in den Sinn, das für uns UntergRundgänger*innen seit den Anfängen vor 25 Jahren stilbildend war:

Fragen eines lesenden Arbeiters

Wer baute das siebentorige Theben?
In den Büchern stehen die Namen von Königen.
Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt?
Und das mehrmals zerstörte Babylon
Wer baute es so viele Male auf? In welchen Häusern
Des goldstrahlenden Lima wohnten die Bauleute?
Wohin gingen an dem Abend, wo die Chinesische Mauer fertig war
Die Maurer? Das große Rom
Ist voll von Triumphbögen. Wer errichtete sie? Über wen
Triumphierten die Cäsaren? Hatte das vielbesungene Byzanz
Nur Paläste für seine Bewohner? Selbst in dem sagenhaften Atlantis
Brüllten in der Nacht, wo das Meer es verschlang
Die Ersaufenden nach ihren Sklaven.

Der junge Alexander eroberte Indien.
Er allein?
Cäsar schlug die Gallier.
Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?
Philipp von Spanien weinte, als seine Flotte
Untergegangen war. Weinte sonst niemand?
Friedrich der Zweite siegte im Siebenjährigen Krieg. Wer
Siegte außer ihm?

Jede Seite ein Sieg.
Wer kochte den Siegesschmaus?
Alle zehn Jahre ein großer Mann.
Wer bezahlte die Spesen?

So viele Berichte.
So viele Fragen.

Mit solchen Fragen im Hinterkopf durch den öffentlichen Raum zu schreiten, ist hochspannend. Schon nur bei den Strassenschildern lässt sich das Thema durchbuchstabieren: Warum zum Beispiel finden sich so wenige Frauennamen in Luzerns Strassen? Noch vor wenigen Jahren erinnerte einzig der Minnie-Hauk-Weg an eine weibliche Persönlichkeit. Diese berühmte Opernsängerin bekam allerdings bloss ein Weglein ohne jegliche Hausnummer… Auch wenn in den letzten Jahren Cécile Lauber und Anna Neumann dazu kamen und zudem Josi Meier sowie Angela Rosengart je ein eigener Platz gewidmet wurde, sind die Proportionen weiterhin schief.

Im Untergrundquartier kennen wir die Meyerstrasse, können aber bis heute nicht genau sagen, welchem Meyer diese Strasse wirklich gewidmet ist – anderswo ist dargelegt (siehe UntergRundgang-Publikation «Zeitensprünge und Grenzgänge», Luzern 2019), dass es gleich drei mögliche Kandidaten gibt: Badi Meyer, der ‹Vater aller Untergründler›, Xaver Meyer, der ‹Bebauer der Sentimatte›, und Xaver Meyer von Schauensee, der Begründer des Luzerner ‹Tagblatts›.

Im Sinne des Brecht-Gedichts kann immerhin festgehalten werden, dass es im Quartier keine Strasse für den prominenten Schindler (ein immerhin weltbekannter Liftbauer) gibt, jedoch eine für seine – allerdings namenlosen – Giesser. Die Eisengiesserei war 1895 eine Erweiterung des Betriebsgeländes auf der Sentimatt.

Geschichtstafeln im Untergrund

Wenden wir nun aber die Aufmerksamkeit noch einmal jenen Tafeln zu, mit denen im Luzerner Stadtraum historisches Wissen zugänglich gemacht wird. Ein Solitär im Untergrund befindet sich am Kreuzstutz, wo eine katholische Initiativgruppe in den 1950er-Jahren eine «Gedächtnislücke» schliessen wollte und Geld sammelte, um dort ein altes und vergessenes Kreuz neu erstehen zu lassen.

Bild 2: Erinnerungstafel zum Kreuz am Kreuzstutz (Foto: Urs Häner).
Erinnerungstafel zum Kreuz am Kreuzstutz (Foto: Urs Häner).

Das Stichwort «Stadtbann» führt übrigens zu weiteren solchen Kreuzen auf der Allmend (an der heutigen Horwerstrasse) und beim Museumsplatz, womit wir gedanklich wieder in die Nähe des Bourbaki-Panoramas und des Löwendenkmals kämen.

Die meisten UntergRundgänge beginnen beim Historischen Museum, und dort kokettiere ich vor der Tafel zum Alten Baslertor oft mit dem Spruch, die ganze Altstadt sei voll mit historischen Tafeln, auf dass Tourist*innen und andere gebildet wieder nach Hause gehen, während Richtung Untergrund solche Tafeln sehr schnell sehr mager würden. Neben der Tafel, die sich dem ehemaligen Stadttor (zwischen Kernstadt und Vorstadt) an der Ausfallstrasse nach Basel widmet, hat es an der Baselstrasse nur noch eine weitere solche Geschichtstafel, sie erinnert an das äussere Begrenzungstor der mittelalterlichen Vorstadt und zudem an das dort platzierte Siechenhaus: Sentitor samt Sentispital und Sentikirche.

Bild 3: Die beiden Erinnerungstafeln zum Sentitor (links) und Baslertor (rechts) im Untergrund-Quartier (Fotos: Urs Häner).
Die beiden Erinnerungstafeln zum Sentitor (links) und Baslertor (rechts) im Untergrund-Quartier (Fotos: Urs Häner).

Dass es zu diesem massiven Ungleichgewicht kommt (zwei Tafeln im Untergrund, etliche Dutzend in der Altstadt und drum herum), ist an sich schon eine Aussage: Wem werden die Berichte und Fragen gewidmet…?

Kommt dazu, dass diese Tafeln meist eine Gebäudegeschichte erläutern und dass die dazugehörigen Menschen nur zwischen den Zeilen durchscheinen. Aber wer lebte dort, wo sich das Siechenhaus befand? Und hinter dem «Eländ Chrüz» steckt vermutlich auch eine Zuschreibung, die dann ebenfalls den Bewohner*innen anhaftete (wie der Begriff Baselstrasse bis heute leider negativ konnotiert ist, obwohl sie längst eine der spannendsten und vielfältigsten Strassen Luzerns geworden ist).

Es kann sein, dass Tafeln kein ausreichendes Format sind, um Geschichte wirklich zu vermitteln. Immerhin sind sie ein Haftpunkt im öffentlichen Raum, um das Nachdenken über Geschichte zumindest anzustossen. Und so verstehe ich auch das Postulat des (kürzlich zurückgetretenen) Grossstadtrats Cyrill Studer Korevaar, bei der ehemaligen Richtstätte auf der Sentimatt (heute Parkplatz neben der Pädagogischen Hochschule) ein «Mahnzeichen» zu errichten: Mehrere hundert öffentliche Hinrichtungen wegen u.a. Mord, schwerem Diebstahl, Brandstiftung, Kindstötung, Hexerei, Homosexualität oder Blasphemie wurden an diesem Ort vollzogen. Wie bereits in Sursee wäre es auch in Luzern an der Zeit, diese Seite der Geschichte nicht weiter zu verdrängen, sondern sich ihr zu stellen.

Neben Tafeln und Mahnzeichen gibt es natürlich weitere Ausdrucksformen für die Vermittlung von Geschichtswissen. Ich zähle auch die Führungen beispielsweise der Frauenstadtrundgänge und von uns UntergRundgänger*innen dazu. Dank neuen Technologien kann man/frau heute auch mit einem Audioguide oder sogar mit einem Tablet auf die Piste gehen. Das eröffnet ganz neue Möglichkeiten, wie das Abrufen von O-Tönen zu erzählten Lebensgeschichten usw.

Im Untergrund steht seit 2016 ein gewichtiges geschichtsträchtiges Denkmal: Mitten auf dem Kreisel Kreuzstutz blickt der Strassenkehrer HEINZ auf das lebendige Geschehen im Arbeiter- und Arbeiterinnenquartier herunter. Der Künstler Christoph Fischer hat hier dem früheren Quartierbewohner und -arbeiter Heinz Gilli eine sehr anschauliche Skulptur gewidmet. Natürlich wird HEINZ nicht 1,4 Millionen Mal pro Jahr besucht wie der steinerne Löwe in Vor-Corona-Zeiten, aber mittlerweile sind sicher Abertausende auf dem Arbeitsweg an ihm vorbeigefahren und er gehört inzwischen zum Grundbestand des Quartiers (aus gesundheitlichen Gründen musste der reale Heinz allerdings ins Alters- und Pflegeheim Eichhof ziehen).

Schnittstelle von Geschichte und Kunst

Zum Abschluss dieser Tour d’horizon soll noch ein kleines Geheimnis gelüftet werden: Seit kurzem gibt es an der Baselstrasse eine dritte historische Tafel gleicher Art, ein Nachzügler quasi in der grossen hellgrauen Tafelfamilie. Und das kam so: Zu Beginn des Jahres 2020, kurz bevor Corona alles auf den Kopf stellte, wurden die UntergRundgänger*innen gebucht von Nika Spalinger, Professorin an der HSLU Design&Kunst. Im Rahmen einer Projektwoche des BA Studiengangs Kunst und Vermittlung mit den Gastdozierenden Nicola Rivet und Jeanne Gillard (Rosa Brux) aus Genf sollten die Studierenden einen geschärften Blick für all die Signale im öffentlichen Raum des Quartiers bekommen. Leitmotiv war übrigens just jenes erwähnte Brecht-Gedicht.

Ich steuerte, wie ich es öfters mache auf dem UntergRundgang, unter der Eisenbahnbrücke an der Baselstrasse eine kleine Geschichte zu einer kleinen Beobachtung bei.

Bild 4: Unter der Eisenbahnunterführung ist eingepfercht zwischen zwei grossen Plakatwänden ein gespraytes blaues H und ein halbes O zu sehen sowie ein Rest einer schwarz gemalten Fläche (Foto: Urs Häner).
Unter der Eisenbahnunterführung ist eingepfercht zwischen zwei grossen Plakatwänden ein gespraytes blaues H und ein halbes O zu sehen sowie ein Rest einer schwarz gemalten Fläche (Foto: Urs Häner).

Eingepfercht zwischen zwei grossen Plakatwänden ist da ein gespraytes blaues H und ein halbes O zu sehen sowie ein Rest einer schwarz gemalten Fläche. Hinter diesem Menetekel verbirgt sich eine vorerst unschöne Geschichte: Jemand hatte da eine ausländerfeindliche Sprayerei mit «…GO HOME» angebracht. Aber es blieb nicht dabei, denn wenige Tage später konnte mit antirassistischer Energie der Spruch übermalt werden – aus irgendeinem Grund blieb von der ganzen Zeile nur das Wort «HOME» stehen.

Im Rahmen der erwähnten Projektwoche entwickelte dann die Gaststudentin Lydie Serret aus Mulhouse die Idee, diesem unscheinbaren Spurenelement eine neue Tafel zu widmen.

Bild 5: Die neue Gedächtnistafel in der Unterführung an der Baselstrasse (Foto: Urs Häner).
Die neue Gedächtnistafel in der Unterführung an der Baselstrasse (Foto: Urs Häner).

Nach mehrfacher Verschiebung des Jubiläumsanlasses «25 Jahre UntergRundgang» konnte am 3. Juli 2021 diese neue Tafel enthüllt werden und ergänzt seither das kollektive Wissen zu unserem Quartier. 

Urs Häner

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